Das moderne Weltsystem
Immanuel Wallerstein zum 70. Geburtstag
Erschienen in: Direkte Aktion Nr. 141, September/Oktober 2000
Der us-amerikanische Sozialwissenschaftler
Immanuel Wallerstein, dessen Werk weltweit Verbreitung und Achtung erfahren
hat, ist hierzulande – insbesondere auch innerhalb der (nicht-akademischen)
Linken – noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Das ist insofern verwunderlich,
da Wallerstein seit Jahrzehnten darum bemüht ist, mit seinen Forschungen
zur Entstehung und Realität des Kapitalismus zu dessen Delegitimation und
damit auch zu dessen Überwindung beizutragen. Dabei hat er einige interessante
Denkansätze hervorgebracht, die vor allem durch einen konsequent globalen
Ansatz gekennzeichnet sind. Gleichzeitig hat er auch einige wichtige Beiträge
zur Erforschung der Ursachen von Nationalismus, Rassismus und Sexismus und deren
Rolle im Klassenkampf geleistet. Sein Werk dürfte also auch für SyndikalistInnen
von Interesse sein. An dieser Stelle soll anläßlich seines 70. Geburtstages
ein kurzer Überblick über sein Denken gegeben werden.
Immanuel Wallerstein wurde am 28. September 1930 in New York als Kind deutsch-jüdischer
Einwanderer geboren. Nach seinem Studium der Soziologie forschte Wallerstein
einige Jahre in Afrika und schrieb mehrere Beiträge über die dortigen
nationalen Befreiungsbewegungen. Seit 1968 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift
Africa Today, später auch weiterer Afrikanistik-Zeitschriften. Seine
Arbeiten stehen in der Tradition zweier bedeutender Denker: Karl Marx und Fernand
Braudel. Ersterem verdankt er vor allem wichtige Anstöße auf dem
Gebiet der politischen Ökonomie, deren kritische Intentionen er aus den
Trümmern der ideologischen Verzerrungen der Parteimarxisten freizulegen
versucht, letzterem vor allem den Blick für den notwendigen Analyserahmen.
Seit Beginn der 1970er Jahre arbeitet er zusammen mit anderen WissenschaftlerInnen
an einer Weltsystemtheorie, deren Hauptresultat bisher 3 Bände zur Entstehung
der kapitalistischen Weltökonomie seit dem 16. Jahrhundert darstellen.
Seit 1976 ist Wallerstein Direktor des Fernand Braudel Center for the Study
of Economies, Historical Systems, and Civilizations an der Binghamton University,
New York, und seit 1977 Herausgeber der Zeitschrift Review, die vor allem der
internationalen Diskussion der Weltsystemtheorie dient.
In Deutschland hat sich vor allem der Verein für Geschichte des Weltsystems
e.V. um den Hannoveraner Professor für Osteuropäische Geschichte,
Hans-Heinrich Nolte, der Weltsystemforschung verschrieben, aber auch die Bielefelder
Feministinnen um Maria Mies oder TheoretikerInnen des peripheren Kapitalismus
beziehen sich – durchaus kontrovers – auf die Theorien Wallersteins.
Im Mittelpunkt der Arbeiten Wallersteins steht die Analyse von Vergangenheit
und Gegenwart des kapitalistischen Weltsystems sowie der verschiedenen Ideologien,
die dessen Stabilisierung dienen. Dabei verwirft er die meisten gängigen
Bezugsrahmen der Sozialwissenschaften, wie Gesellschaft, Entwicklung, die Interpretation
der Geschichte als eine gesetzmäßige Abfolge verschiedener Epochen
usw., ebenso wie die Trennung der Sozialwissenschaften in einzelne Disziplinen.
Wallersteins Sichtweise ist eine totale, gleichzeitig betont er die Notwendigkeit
der Berücksichtigung mehrerer Zeiten wie auch Räume für die Untersuchung
spezifischer Prozesse. Jedem Untersuchungsgegenstand muß auch die jeweilige
entsprechende RaumZeit zugeordnet werden. Die kleinste zulässige
Analyseeinheit bei der Untersuchung der Geschichte des Kapitalismus ist der
Globus und ein dementsprechend langer Zeitraum.
Historische Systeme
Aber nicht für jedes Zeitalter
in der Menschheitsgeschichte ist der Globus die notwendige Analyseebene. In
Abhängigkeit von der Reichweite der jeweiligen, auf autonomer innerer Arbeitsteilung
basierenden historischen Systeme unterscheidet er Welt- und Minisysteme. Minisysteme
– in der Frühgeschichte dominierend - waren sowohl in ihrer räumlichen,
wie auch in ihrer zeitlichen Ausdehnung relativ klein. Weltsysteme hingegen
sind durch eine große zeitliche und räumliche Ausdehnung gekennzeichnet,
müssen sich jedoch nicht zwangsläufig über den gesamten Globus
erstrecken. Entscheidend ist das Vorhandensein einer inneren – funktionalen
wie auch geografischen – Arbeitsteilung bei gleichzeitiger Existenz von verschiedenen
kulturellen Systemen. In der Frühphase der menschlichen Geschichte nach
der neolithischen Revolution, d.h. nach der Seßhaftwerdung infolge des
Überganges zum Ackerbau, koexistierten neben den Minisystemen zwei Formen
von Weltsystemen: Weltimperien und Weltwirtschaften. Erstere sind
durch ein zentralisiertes politisches System auf Basis von Tributzahlungen gekennzeichnet,
letztere haben hingegen keine gemeinsame politische Struktur. Zunächst
unterwarfen die Weltimperien regelmässig aufkommende Weltökonomien,
jedoch sind Weltimperien per definitionem politisch instabil und daher nur von
relativ eng begrenzter Zeitdauer. Nach dem Zerfall eines Imperiums entstanden
oft ein Vielzahl von Weltwirtschaften oder auch Minisystemen, die wiederum i.d.R.
durch expandierende benachbarte Weltreiche annektiert wurden.
Im "langen 16. Jahrhundert" (ca. 1500-1650) gelang es jedoch einer Weltwirtschaft
in Europa sich gegenüber den Imperien zu behaupten. Nach und nach vergrößerte
sich diese Weltwirtschaft, bis ca. um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert
nur noch diese eine Weltökonomie existierte. Diese Weltwirtschaft ist identisch
mit dem kapitalistischen (Welt-)System.
Kapitalismus
Unter Kapitalismus versteht
Wallerstein – in Anlehnung an Marx – ein "System, das auf der endlosen Akkumulation
von Kapital beruht." [2, S.180] Entscheidendes Mittel dazu ist die Verwandlung
aller Dinge in Waren. Auf der Ebene der Arbeitskraft findet dementsprechend
ein Proletarisierungsprozeß statt, d.h. immer mehr Arbeitskräfte
werden freigesetzt und stehen auf dem Arbeitsmarkt dem meistbietenden Anbieter
zur Verwertung zur Verfügung. Zentral für das Verständnis des
Proletarisierungsprozesses ist jedoch nicht die einzelne Arbeitskraft – wie
etwa in der marxistischen Tradition – sondern der Haushalt. In diesem wird die
sogenannte "unproduktive" Arbeit – i.d.R. von Frauen oder auch Kindern – verrichtet,
außerhalb des Haushaltes die "produktive" und damit bezahlte Arbeit –
durch zumeist männliche Lohnarbeiter. Jedoch sieht Wallerstein die Lohnarbeit
nicht als die wesensbestimmende Form der Arbeit im Kapitalismus, sondern
nur als eine von vielen Möglichkeiten – wie z.B. Sklavenarbeit,
die Arbeit von Leibeigenen oder auf Basis eines Pächtersystems und eben
die Subsistenzarbeit.
Der Proletarisierungsprozeß ist ein im Kapitalismus zwangsläufiger
Prozeß – und dennoch begrenzt. Wesentlich interessiert an dessen Verzögerung
sind die Kapitalisten selbst, da der Wert der Arbeitskraft aus einem nur halbproletarisierten
Haushalt deutlich geringer ist, weil ein wesentlicher Anteil an Nahrungs- und
Lebensmitteln innerhalb der Haushalte produziert wird. Andererseits sind sie
jedoch an dem Nachfrageeffekt, der durch einen hohen Proletarisierungsgrad entsteht,
interessiert. Die Arbeiterklasse hingegen strebt nach einer Vollproletarisierung,
da in solchen Haushalten die Ausbeutungsrate wesentlich geringer ist.
Die ausbeutende Klasse, die Bourgeoisie, wiederum eignet sich den Mehrwert nicht
nur an, sondern muß einen Teil für die Akkumulation von Kapital verwenden,
da jene, die "lediglich Mehrwert konsumieren, im Lauf der Zeit ökonomische
Verluste erleiden gegenüber den Akkumulateuren." [8, S.316] So gibt es
auch innerhalb der Oberschicht eine Tendenz zur "Verbürgerlichung", d.h.
ein Bestreben, die Einkommen aus "feudaler Rente" in solche aus laufenden "Marktoperationen"
umzuwandeln. [3, S.198f]
Die Kapitalisten stehen also vor dem bekannten Dilemma, einerseits die Kosten
senken zu müssen, andererseits durch das dadurch entstehende verringerte
Lohneinkommen eine Senkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zu bewirken.
Hinzu kommt die dem Kapitalismus innewohnende Tendenz zur Monopolbildung durch
die im Konkurrenzkampf erfolgreichsten Einzelkapitalisten. In den sich wiederholenden
Krisen werden die aufgetretenen Widersprüche periodisch bereinigt. Das
funktioniert aber nur solange, wie durch die äußere oder innere Expansion
des kapitalistischen Weltsystems, also die Einbeziehung immer neuer Gebiete
in die Weltwirtschaft bzw. die Verwandlung von Dingen oder sozialen Prozessen
in Waren, neue Profitquellen erschlossen werden können.
Klassenschichtung im Weltsystem
Daß der Kapitalismus in seiner
bisherigen Entwicklung trotz der extremen Ungleichverteilung an materiellen
Gütern wie auch an politischen Einflußmöglichkeiten eine bemerkenswerte
Stabilität hervorgebracht hat, ist vor allem seinem Herrschaftsprinzip
auf Basis einer strukturellen Dreiteilung zu verdanken. Diese existiert
in allen Institutionen der Weltwirtschaft, so etwa innerhalb der jeweiligen
Staaten in Gestalt einer Mittelschicht, die nicht nur ausgebeutet wird, sondern
auch selbst an den Früchten der Ausbeutung beteiligt ist, zwischen Bourgeoisie
und Proletariat oder innerhalb der Organisation des Produktionsprozesses selbst
(Manager-Meister-Arbeiter). Die Mittelschicht hat ihre Existenz vor allem der
Bourgeoisie zu verdanken, die im Interesse der Herrschaftssicherung an deren
Erhaltung interessiert ist – ganz im Gegensatz zur Arbeiterklasse. So ist nach
Wallerstein der Kampf um die Mittelschichten die "Kernfrage des Klassenkampfes."
[8, S.306] Global betrachtet schätzt er den Anteil derjenigen, "deren Konsumption
die eigene Mehrwertproduktion übersteigt" auf ca. 10...15% der Weltbevölkerung.
Davon zählten allerdings nur weniger als 1% zur eigentlichen Bourgeoisie,
den Rest bilden die Mittelschichten.1 [1, S.92]
Ebenso gibt es eine dreigeteilte Struktur des zwischenstaatlichen Systems
der Weltwirtschaft. Dieses setzt sich aus den Staaten des Zentrums, der Peripherie
und der Semiperipherie zusammen. Die jeweiligen Staaten dienen hauptsächlich
der Ausschaltung von Marktmechanismen, mit dem Ziel der Schaffung von regionalen
Monopolen. Jedoch sind die einzelnen Staatsapparate aus vielerlei Gründen
unterschiedlich stark entwickelt. Innerhalb des zwischenstaatlichen Systems
kommt es zu beständigen Auseinandersetzungen um die Erringung regionaler
wie auch globaler Vorherrschaft. Im Ergebnis kommt es zu einer Erzwingung des
ungleichen Tauschs zugunsten der "starken Staaten" und zum Nachteil der
"schwachen", der notfalls eben auch mittels militärischer Gewalt herbeigeführt
wird. Insofern ist es ein "Mythos", von einer staatlichen Souveränität
zu sprechen, da auch die Regeln des Staatensystems nach dem Recht des Stärkeren
festgelegt werden. Jedoch konnte es in der kapitalistischen Weltwirtschaft nie
zu einer Alleinherrschaft eines Staates kommen, da die verschiedenen führenden
Staaten immer wieder verschiedene Allianzen eingingen, die eine Alleinherrschaft
eines Staates (was den Übergang zu einem neuen Weltimperium bedeuten würde)
bisher immer verhindern konnten. In diesen Kämpfen kommt es auch immer
wieder vor, daß sich Teile der Arbeiterklasse eines Staates mit der Unternehmerschaft
verbünden, um die Stellung des "eigenen" Landes in der Staatenhierarchie
zu verbessern und damit den Anteil am Welt-Mehrwert zu vergrößern
bzw. zu verteidigen.
Ideologien
Ein weiterer Grund für die politische
Stabilität des Kapitalismus ist der starke Einfluß der kapitalistischen
Ideologie, vor allem auf die globale Mittelschicht. Diese ruht auf zwei Säulen,
dem Universalismus auf der einen Seite und Rassismus/Sexismus auf der anderen.
Der Universalismus ist die Basis für die Legitimation der Verwandlung
aller Dinge in Waren. Gleichzeitig dient der Universalismus der Verbreitung
einer einheitlichen, westlichen Kultur vor allem unter den "Kadern der sozialen
Arbeitsteilung", vorrangig mit dem Ziel der zuverlässigeren ökonomischen
wie auch politischen Kalkulierbarkeit. Wichtigstes Mittel der Verbreitung des
Universalismus war und ist der Mythos von der Aufklärung, d.h. eines weltweiten
Kulturkampfes der Moderne gegen überlebte Traditionen im
Namen des Fortschrittes.
Rassismus und Sexismus hingegen dienen der Hierarchisierung von Arbeitsleistungen.
Der Rassismus bedient sich dabei der "Ethnisierung des Gemeinschaftslebens",
d.h. der Festlegung von Menschengruppen auf bestimmte berufliche bzw. ökonomische
Rollen. Damit wird nicht nur das Vorhandensein von Arbeitskräften für
bestimmte Berufsgruppen gesichert, sondern auch deren Sozialisation und sogar
teilweise Ausbildung in Eigenregie durch die ArbeiterInnen selbst und – nicht
zuletzt – die Festlegung der jeweiligen Ethnien auf ein bestimmtes Einkommensniveau.
Allerdings sind Ethnien, ebenso wie Rassen oder Nationen, alles andere als stabile,
statische Bevölkerungsgruppen. Im Gegenteil, sie verändern je nach
Bedarf der Weltwirtschaft ihre Grenzen und werden ständig neu geschöpft.
Wallerstein verweist damit auf den ideologischen Charakter scheinbar wissenschaftlich
belegter Begriffe wie Nation, Rasse und ethnische Gruppe2.
Durch die Zuordnung von Menschengruppen zu solchen Kategorien werden die Menschen
auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegt, die durch eine nachträglich
geschaffene gemeinsame Vergangenheit bestimmt sind. Jede dieser drei Begriffe
hat seine Funktion in der Struktur der Weltwirtschaft. Rasse dient als
Rechtfertigung für die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung zwischen Zentrum
und Peripherie, Nation für die Legitimation des Ranges eines Staates
in der "Hackordnung" des zwischenstaatlichen Systems und Ethnie für die
Einordnung von Bevölkerungsgruppen in die gesellschaftliche Arbeitsteilung
eines Staates.
Die Funktion des Sexismus hingegen ist die Aufrechterhaltung der unbezahlten
Arbeit im Haushalt. Wesentliches Ziel dabei ist es, die Löhne der männlichen
Lohnarbeiter niedrig halten, indem sie faktisch durch die Subsistenztätigkeit
der Frauen im Haushalt subventioniert werden. Zusätzlich geht "mit dem
Sexismus die Abwertung bestimmter Altersstufen Hand in Hand", also der Alten
und Kinder. [2, S.47]
Beide Arten von Ideologien – Rassismus und Sexismus auf der einen Seite, Universalismus
auf der anderen – bedingen einander und stellen sich dennoch gegenseitig in
Frage. Erstere binden vor allem die arbeitenden Klassen an das kapitalistische
System, letzterer vor allem die Mittelschichten.
Systemfeindliche Bewegungen
Die beiden ideologischen Säulen
des Kapitalismus bergen jedoch auch die Gefahr ihrer Übersteigerung. Die
dem Universalismus eigene Tendenz der (scheinbaren) Gleichmacherei kommt in
der Arbeiterbewegung zum Ausdruck, die auf eine wirklich egalitäre Verteilung
der Arbeitsleistungen abzielt. Der Nationalismus hingegen baut auf den Ideologien
der Ungleichheit, der Ethnisierung auf. Beide beziehen sich auf den Begriff
des Volkes, wobei dieser bei ersterer im Klassenkontext betrachtet wird, bei
letzterer in Bezug auf die Nation. In den Staaten der Peripherie gingen alle
zwei Arten systemfeindlicher Bewegung oft eine Symbiose ein – die sogenannten
nationalen Befreiungsbewegungen.
Letztendlich wiesen aber die systemfeindlichen Bewegungen bisher immer
vorrangig Tendenzen auf, eher in Richtung des eigenen Aufstieges zu streben,
als wirkliche Gleichheit herbeizuführen. Das liegt vor allem an deren Fixierung
auf die Übernahme der Staatsmacht, wozu auch Bündnisse mit verschiedenen
systemimmanenten Gruppierungen eingegangen wurden, sowie an der Einbindung der
Bewegungen in die Institutionen des Staates. Letztendlich führte die Machtübernahme
solcher Bewegungen bisher immer zu einer Stabilisierung der kapitalistischen
Weltwirtschaft.3
Auf Grund fehlender weiterer Expansionsmöglichkeiten ist jedoch die kapitalistische
Weltwirtschaft heute, nach über 400 Jahren Blütezeit, in eine strukturelle,
d.h. eine beständige, das übliche Auf und Ab des periodischen Zyklus
überlagernde, Krise geraten.4 Neben der ökonomischen
befindet sich der Kapitalismus auch in einer politischen Krise. Zum einen ruft
die wachsende weltweite Einkommenspolarisierung zunehmende Proteste hervor,
zum anderen wächst der Verteilungskampf innerhalb der Weltbourgeoisie.
Gleichzeitig hat aber die politische Krise auch die systemfeindlichen Bewegungen
erfaßt.
Derzeit sieht Wallerstein zwei Strömungen innerhalb dieser Bewegungen.
Auf der einen Seite gewinnen aufstrebende Kader aus den Mittelschichten zunehmend
an Einfluß, andererseits gibt es auch eine wachsende Basis für militante
Strömungen, die die alten Strategien zunehmend in Frage stellen.
Jedoch gilt es, die herkömmlichen Rezepte von der proletarischen Revolution
zu überdenken. Für wesentlich hält er das Abgehen von der Strategie
der Eroberung des Staatsapparates und die stärkere Hinwendung auf andere
Bereiche, wie die Ökonomie, Kultur usw., da keiner dieser Bereiche als
autonom betrachtet werden kann. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten
von Übergängen zu einem neuen Weltsystem: die "kontrollierte Transformation",
bei der die Gefahr der Einflußnahme der Bourgeoisie in Richtung eines
neuen Herrschaftssystems recht groß ist, oder aber ein "beschleunigter
Verfall", der das erfolgversprechendere Konzept für einen erfolgreichen
Wandel zu einem "wahrhaft sozialistischen welthistorischen System" darstellt.
[3, S.47]
Sozialwissenschaften
Einen wichtigen Raum bei der Suche
nach systemüberwindenden Alternativen nehmen bei Wallerstein die Sozialwissenschaften
ein. Jedoch sind zuerst die etablierten Sozialwissenschaften "kaputtzudenken".
Ihre Teilung in drei strikt getrennte Bereiche Politologie, Ökonomie und
Soziologie entspricht der Aufsplittung des gesellschaftlichen Lebens in die
drei Handlungsbereiche Markt, Staat und Privathaushalte. Die Sozialwissenschaften
sind ein Produkt des Liberalismus des 19. Jahrhunderts, ebenso wie die fortschrittsgläubige
Geschichtskonzeption, die die legitimierende Basis für die kapitalistische
Produktionsweise darstellt. So bezweifelt Wallerstein, daß der Kapitalismus
einen Fortschritt in der menschlichen Geschichte verkörpert, wie z.B. auch
Marx glaubte.5 Seine Entstehung war auch nicht Ausdruck
der Ablösung einer herrschenden Klasse (Adel) durch eine neue (Bürgertum),
sondern Ergebnis der zielgerichteten Abwehr egalitärer Trends im 15./16.
Jahrhundert, die eine "grundlegende Krise" des feudalen Systems verursachten,
durch die herrschende Aristokratie. Im Ergebnis setzte sich die herrschende
Klasse im Kapitalismus im hohen Maße aus den selben Familien zusammen,
die schon im "Feudalismus" die Oberschicht bildeten.6
[1, S.34ff.] Das herrschende Geschichtsverständnis ist durch einen biologistischen
Entwicklungsbegriff geprägt, wonach der gesellschaftliche Fortschritt die
Herausbildung von schon im Keim angelegter Potentiale der Menschheit darstelle,
eine Auffassung die nicht nur vom Liberalismus, sondern auch vom Marxismus oder
Konservatismus geteilt wird. Darauf basiert auch die rassistische Theorie der
Unterentwicklung, die eine wesentliche Legitimation für die weltweite Ungleichverteilung
von materiellen Gütern bildet.
Die Sozialwissenschaften hält Wallerstein für den "kulturellen Schauplatz"
der genauso wie der politische mit den systemfeindlichen Bewegungen in naher
Zukunft in "noch größeren Aufruhr" geraten wird. [3, S.45] Er plädiert
daher für einen radikalen Neuanfang in den Sozialwissenschaften, die mit
den traditionellen analytischen Rahmen brechen müssen. Ziel dabei muß
es sein, die zusammengehörigen Untersuchungsfelder wieder als solche zu
betrachten. Interdisziplinäre Forschung, wie sie heute wieder zunehmend
Mode wird, ist dabei nicht ausreichend. Schlüsselkategorie muß das
historische System sein, daß die Vielzahl der staatlichen Gesellschaften
als ein Ganzes faßt, Veränderungen über einen langen Zeitraum
analysiert und dabei nicht die theoretische Separierung von Ökonomie, Politik
und Sozialem reproduziert. In diesem Sinne fordert Wallerstein, eine "Strategie
der Veränderung zu rekonstruieren, die tatsächlich im Sinne einer
Utopie funktioniert." Diese Utopie stellt einen Prozeß dar, der "das Bessere
immer wieder definiert, indem er die vorhandene Realität kritisiert.",
und der nicht von einer "sozial isolierten Intelligenz noch einer Partei", sondern
nur von den "Vielen (...) in ihrem eigenen Namen" getragen werden kann. Andernfalls
drohe die Ablösung des Kapitalismus durch ein neues historisches System,
das "genauso unegalitär und genauso wenig freiheitlich ist, wie das, aus
dem wir uns hinausbewegen." [3, S.222f.]
Fazit
Soweit zu einem kurzen, mit Sicherheit
unvollständigen, Überblick über den Wallersteinschen Denkansatz.
Es gibt sicher auch einige Kritikpunkte, auf die es sich lohnen würde,
näher einzugehen. Generell bleibt auf jeden Fall anzumerken, daß
die Analyse des Kapitalismus bei Wallerstein hauptsächlich als ein Problem
ungleicher Güterverteilung nur eine Seite des Problems trifft, Probleme
wie Entfremdung, Sozialpsychologie oder auch Ökologie hingegen nur am Rande
vorkommen.7 Ebenso kritisiert er zwar die Fixierung
der systemfeindlichen Bewegungen auf die Machtübernahme im Staat und verweist
darauf, daß der Staat "ein konstitutives Element für das Funktionieren
des kapitalistischen Systems" ist [3, S.245], kann sich aber den Sozialismus
nur auf Basis einer "sozialistischen Weltregierung" vorstellen, deren staatliche
Strukturen dann im Marxschen Sinne absterben würden. Gleichfalls verbindet
er seine Kritik an den Monopolen mit der Gegenüberstellung eines wirklich
freien Marktes, der durchaus die Grundlage sozialistischen Wirtschaftens sein
könnte – nicht zuletzt wohl auch ein Ergebnis der Beschränkung auf
das Verteilungsproblem. Zudem sind m.E. auch einige Zweifel an der zentralen
Bedeutung der Sozialwissenschaften, die so manches Mal in seinen Schriften durchscheint,
angebracht.
Besonders wertvoll für neue Ansätze von systemfeindlichen Bewegungen
macht die Gedanken Wallersteins vor allem ihre konsequente Weltsystemperspektive
sowie die Einbeziehung von Nicht-Lohnarbeit als wesentlichem Bestandteil des
Kapitalismus bei der Analyse von Ausbeutungsbedingungen. Genauso wichtig dürfte
auch der Beitrag Wallersteins zur Entzauberung des Fortschrittsmythos' und des
Entwicklungsgedankens in der menschlichen Geschichte, sowie deren Verquickung
mit dem Rassismus und Nationalismus als systemstabilisierender Ideologie sein.
Ermutigend ist auch seine Betonung der grundsätzlichen Offenheit und damit
Gestaltbarkeit der Geschichte durch die Menschen. Und im Zuge der Globalisierungsdiskussion
dürfte gerade seine Analyse des Zusammenwirkens von Monopolen und zwischenstaatlichem
System bei der Widerlegung der neoliberalen Ideologie vom freien Markt nützlich
sein.
Grund genug, mal eines seiner Bücher in die Hand zu nehmen...
Fussnoten
1 Dazu dürfte somit auch die Mehrheit der BewohnerInnen der Staaten des Zentrums zählen.
2 Als Beispiel für die "Genetik, die offensichtlich die Realität der Weltwirtschaft in Rechnung stellt" verweist Wallerstein auf die Japaner, die - im Gegensatz etwa zu den Chinesen - als "Weiße ehrenhalber" gelten. [2, S.100]
3 So ordnet Wallerstein auch die Oktoberrevolution 1917 in Rußland als das Bestreben eines semiperipheren Landes, das vom Rückfall in den peripheren Zustand bedroht war, ein. Mittels der "klassischen merkantilistischen Methode des partiellen Rückzuges aus der Weltwirtschaft" [7, S.58] wurde dieser Trend gestoppt und nach dem zweiten Weltkrieg befand sich die Sowjetunion wieder auf dem Weg zu einem Staat des Zentrums.
4 Wallerstein erwartet noch im 21. Jahrhundert das "Ableben" des Kapitalismus. [1, S.80]
5 Wallerstein nimmt nicht nur an, daß "die große Mehrheit der Bevölkerung der Welt objektiv und subjektiv materiell schlechter dasteht, als in vorangegangenen historischen Systemen", sondern auch, daß die Menschen "politisch schlechter dran sind als früher". [1, S.34f.]
6 Das läßt sich bis ins 19. Jahrhundert nachweisen, erst im 20. Jahrhundert gab es eine höhere soziale Durchlässigkeit. Diese ist jedoch Ausdruck der beginnenden Strukturkrise des Kapitalismus.
7 Daher kann er auch einen Großteil der Bevölkerung in den Staaten des Zentrums zu Quasi-Nutznießern des Kapitalismus erklären, da diese zumindest teilweise vom durchschnittlichen Welt-Mehrwert profitieren.
Literatur
[1] Wallerstein, Immanuel:
Der historische Kapitalismus, Hamburg 1984
[2] Balibar, Etienne / Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation, Ambivalente
Identitäten, Hamburg 1990
[3] Wallerstein, Immanuel: Die Sozialwissenschaft "kaputtdenken", Die Grenzen
der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, Weinheim 1995
[4] Wallerstein, Immanuel u.a.: Die Sozialwissenschaften öffnen, Ein Bericht
der Gulbenkian Kommission zur Neustrukturierung der Sozialwissenschaften, Frankfurt/New
York 1996
[5] Wallerstein, Immanuel: Das moderne Weltsystem, Bd.I: Die Anfänge kapitalistischer
Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert,
Frankfurt/Main 1986
[6] Wallerstein, Immanuel: Das moderne Weltsystem, Bd.II: Der Merkantilismus,
Europa zwischen 1600 und 1750, Wien 1998
[7] Wallerstein, Immanuel: Aufstieg und künftiger Niedergang des kapitalistischen
Weltsystems, Zur Grundlegung vergleichender Analyse, in: Senghaas, Dieter (Hg.):
Kapitalistische Weltökonomie, Frankfurt/Main 1979
[8] Wallerstein, Immanuel: Klassenanalyse und Weltsystemanalyse, in: Reinhard
Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Sonderband Soziale Welt, Göttingen
1983
Marginalien
Fernand Braudel Center
Auf den WWW-Seiten des Fernand Braudel Center findet ihr diverse (zumeist englischsprachige) Texte Wallersteins, aber auch anderer MitarbeiterInnen. Dort gibt es auch eine vollständige (ebenfalls englischsprachige) Bibliographie seiner Veröffentlichungen sowie die Inhaltsverzeichnisse der Zeitschrift Review.
Lieferbare deutschsprachige Schriften:
Wallerstein, Immanuel:
Das moderne Weltsystem.
Bd.1 Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der europäischen
Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert. EVA 1986, 595 S., ISBN: 3-8108-0198-4, DM
58,00
Bd.2 Der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750. Promedia (Edition Weltgeschichte)
1998, 430 S., ISBN: 3-85371-138-3, DM 58.00
Die ersten beiden Bände des Hauptwerkes zur Weltsystemtheorie.
Wallerstein, Immanuel:
Die Sozialwissenschaft 'kaputtdenken'.
Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts. Beltz Athenäum 1995, 356
S., ISBN: 3-89547-020-1, DM 48,00
In diesem Buch sind eine Reihe von Aufsätzen Wallersteins erschienen, die
sich mit vorrangig mit Vergangenheit und Zukunft der Sozialwissenschaften beschäftigen,
gleichzeitig aber auch einen Überblick über seinen Denkansatz insgesamt
geben.
Balibar, Etienne;
Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation.
Ambivalente Identitäten. Argument-Verlag, 279 S.; ISBN: 3-88619-386-1,
DM 39.80. Neuauflage folgt laut Verlag im September 2000.
Dieses Buch, dessen Erstauflage seit Jahren vergriffen ist, dürfte das
hierzulande wohl bekannteste Werk Wallersteins sein. Gemeinsam mit Balibar geht
er den verschiedenen Ideologien nach, die in erster Linie die ständig vom
Klassenkonflikt bedrohten kapitalistischen Gesellschaft stabilisieren.